Vielleicht hast du dich schon einmal gefragt, was Gestalttherapie eigentlich ist. Sie wurde nach dem zweiten Weltkrieg von dem Berliner Psychiater und Psychotherapeuten Fritz Perls und seiner Frau Lore in Zusammenarbeit mit Paul Goodman entwickelt und ist eine Form von Psychotherapie (nicht zu verwechseln mit Gestaltungstherapie!). Sie repräsentiert heute eine der wichtigen psychotherapeutischen Ansätze innerhalb der humanistischen Psychologie.
Psychotherapie
Es geht in der Gestalttherapie also — wie auch bei anderen psychotherapeutischen Verfahren — um Unterstützung beim persönlichen Wachstum bzw. bei einer persönlichen Veränderung. Das Besondere der Gestalttherapie im Vergleich zu anderen Psychotherapie-Ansätzen liegt in einigen Aspekten, auf die ich im Weiteren näher eingehen werde.
Zuerst möchte ich die zwei wichtigsten Merkmale der Gestalttherapie erläutern, die für mich persönlich auch diejenigen sind, die meine Arbeit so lebendig und spannend machen. Zugleich liegt in genau diesen beiden Aspekten das, was die Gestalttherapie am meisten von anderen Psychotherapieformen unterscheidet. Danach komme ich zu weiteren interessanten theoretischen Hintergründen.
Die Bedeutung der persönlichen Beziehung zwischen Therapeutin und Klient1
Das wichtigste Merkmal der Gestalttherapie ist die Bedeutung der persönlichen Beziehung zwischen Therapeutin und Klient. Persönliche Beziehung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sich Therapeut und Klientin mit all ihren persönlichen Regungen, Gefühlen und Gedanken begegnen. Uns diese inneren und persönlichen Vorgänge einander mitzuteilen, führt zu mehr Nähe und Intensität in unserer Beziehung. Ohne eine vertrauensvolle Beziehung sind persönliche Veränderungsprozesse in der Psychotherapie kaum möglich. Das wird bei den meisten anderen Psychotherapieformen auch so gesehen. In der Gestalttherapie aber nimmt das Beziehungsgeschehen selbst, also das, was zwischen Klient und Therapeutin in ihrer konkreten Begegnung vorgeht, einen zentralen Stellenwert für die therapeutische Arbeit ein. Die Art, wie wir anderen Menschen begegnen und unsere Beziehungen zu ihnen gestalten, ist nämlich grundlegend dafür, wie wir dem Leben begegnen und was wir aus unserem Leben machen.
In den zwischenmenschlichen Vorgängen spiegelt sich zudem häufig etwas von den Problemen wider, aufgrund derer jemand psychotherapeutische Unterstützung sucht. Denn unsere psychischen Probleme haben meistens etwas mit unseren Beziehungserfahrungen zu tun bzw. mit der Art und Weise, wie wir unsere Beziehungen gestalten. Das gilt auch umgekehrt: keine anderen Erfahrungen vermögen unser persönliches Wachstum mehr anzuregen als die, die wir in der Begegnung mit anderen Menschen machen. Deshalb hat der persönliche Kontakt bzw. die persönliche Beziehung zwischen Therapeut und Klientin in der Gestalttherapie eine zentrale Bedeutung und wird immer wieder zum Gegenstand der gemeinsamen Gespräche gemacht.
Dialogische Grundhaltung
Gestalttherapeuten sehen sich ihren Klientinnen gegenüber nicht als Experten, die deren Verhalten und Gedanken interpretieren und damit die Deutungsmacht für sich beanspruchen. Sie unterstützen ihre Klienten vielmehr dabei, die für sie richtigen Bedeutungen selber herauszufinden. Sie präsentieren ihren Klientinnen auch kein Programm zur Problemlösung, denn das würde der Komplexität und Einzigartigkeit unseres menschlichen Daseins nicht gerecht werden. Sie regen ihre Klienten stattdessen zuweilen an, in ihrem Alltag etwas auszuprobieren — z.B. neue Verhaltensweisen, mit denen sie bewusst experimentieren können, um neue Erfahrungen machen zu können.
Vor allem aber begegnen Gestalttherapeuten ihren Klientinnen als persönliches Gegenüber und nehmen alle menschlichen Empfindungen, Regungen und Impulse als Teile der Interaktion mit ihnen ernst: Und zwar sowohl die der Klienten, als auch ihre eigenen. Das macht die therapeutische Beziehung in der Gestalttherapie zu einer persönlichen.
Das ist es, was mich an meiner Arbeit so fasziniert und herausfordert, nicht nur als Therapeut, sondern auch — und vor allem — als Person und als Mensch mit meinen ganz eigenen Eindrücken, Gedanken, Empfindungen und Impulsen. Und das ist es, was jede Begegnung mit meinen Klientinnen zu einer einzigartigen macht, die ich als solche intensiv erlebe.
Die Kunst des Gestalttherapeuten ist es, sensibel für diese zwischenmenschlichen Vorgänge zu sein, sie bewusst wahrzunehmen und sie dem Klienten im passenden Moment und auf eine angemessene Weise mitzuteilen. Dies erfordert vom Therapeuten zum Einen eine gute Selbstwahrnehmung und zum Anderen das nötige Einfühlungsvermögen in den Anderen.
Die Konzentration auf den Prozess
Das zweite grundlegende Merkmal der Gestalttherapie ist die Konzentration auf den Prozess. Gestalttherapeuten unterscheiden in der Arbeit mit ihren Klientinnen zwischen Inhalts- und Prozessebene. Mit Inhalt ist das gemeint, WAS die gesprochenen Worte und Sätze bedeuten bzw. das, worüber EXPLIZIT gesprochen wird. Prozess meint all das, was an psychischen Vorgängen im jeweiligen Moment in uns abläuft, was also an (Körper-) Empfindungen, Impulsen und emotionalen Bewegungen in uns vorgeht und IMPLIZIT im Gesagten mitschwingt. Der Prozess kommt durch die Art und Weise zum Ausdruck, WIE wir sprechen, mit welchem Tonfall, mit welcher Gestik und Mimik. Im WIE unserer Mitteilungen bildet sich sozusagen ein wesentlicher Teil dessen ab, was (psychisch) in uns vorgeht. Aber auch in dem Raum zwischen den Worten geschieht Prozess.
In erster Linie ist natürlich der Prozess des Klienten gemeint, aber auch der Prozess der Therapeutin spielt eine Rolle, da sich ein persönlicher Kontakt nur entwickelt, wenn beide sich ihres Prozesses bewusst sind und dessen Inhalte dem jeweils Anderen mitteilen.
Bewusst wahrnehmen und erleben
Gestalttherapeuten richten ihre Aufmerksamkeit in der Therapie vor allem auf das prozessuale Geschehen, denn dieses ist in besonderer Weise für unsere psychischen Probleme und damit auch für die ersehnte persönliche Veränderung relevant. Die Kunst des Gestalttherapeuten besteht darin, einen Raum zu öffnen und eine Atmosphäre zu schaffen, die es ermöglicht, sich diesen persönlichen Vorgängen zuzuwenden und sich auf das einzulassen, was in uns auftaucht.
Unsere inneren Vorgänge — Gefühle, Empfindungen, Wahrnehmungen — unterliegen einer ständigen, wenn auch manchmal nur sehr allmählichen, Veränderung und lassen sich nicht festhalten (deshalb spricht man von “Prozess”). Aber man kann sie erfahren, indem man seine Aufmerksamkeit auf sie richtet und sie bewusst erlebt. Und so erlebt man auch wie sie sich verändern. In der Gestalttherapie fördern wir die Bewusstheit der Klientinnen von sich selbst, denn das ist die Voraussetzung für jede Veränderung. Wir sind dabei nicht bewertend oder urteilend. Alles was auftaucht, darf sein und wird angenommen.
Probier es aus
Du kannst das einmal selbst ausprobieren, indem du deine Aufmerksamkeit für eine Weile auf ein Gefühl (eine Empfindung oder eine Stimmung) richtest, die du in diesem Moment in dir spürst. Begrüße das, was du in dir findest, auch wenn es sich im ersten Moment unangenehm anfühlen sollte … Du wirst bemerken, dass das Gefühl bzw. deine Wahrnehmung dieses Gefühls sich mit der Zeit verändert. Vielleicht verändert sich das Gefühl ganz allmählich oder vielleicht nimmst du nach einer Weile andere Gefühlsqualitäten wahr als noch zu Anfang. Oder ein Gefühl wird deutlicher. Das ist dein gegenwärtiger Prozess. Du hast ihn gerade bewusst erlebt, indem du ihm in den Vordergrund ihrer Aufmerksamkeit geholt hast.
Der Prozess findet jenseits von Worten statt und ist reine Erfahrung, die v. a. durch unsere nonverbale Kommunikation zum Ausdruck kommt. Diese Ebene ist uns häufig nicht bewusst. Dennoch liegt in der Art und Weise, wie wir etwas sagen, meist eine wichtige Bedeutung. Deshalb teilen Gestalttherapeuten ihren Klienten immer wieder mit, was sie auf der Prozessebene wahrnehmen und erleben. Sie geben ihnen beispielsweise Rückmeldungen über ihre Körperhaltung, wenn ihnen diese besonders auffällt oder über den Tonfall, mit dem sie etwas gesagt haben. So kann ihnen bewusst werden, was bisher vorborgen war. So können Gefühle deutlicher werden und Bedürfnisse an Gestalt gewinnen.
Gestalttherapeuten machen also das zum Inhalt des Gesprächs, was sie auf der Prozessebene wahrnehmen und erleben. Und sie interessieren sich für das, was in ihren Klienten vorgeht, während diese etwas von sich mitteilen. Sie teilen ihren Klienten auch gerne mit, was sie ihrerseits empfinden, während sie ihnen zuhören und sie in ihrer Art erleben. Auf diese Weise entsteht ein persönlicher Kontakt zwischen beiden, der den Veränderungs-Prozess des Klienten anregt.
Ich und Du — hier und jetzt
So hat Fritz Perls die beiden wichtigsten Grundprinzipien der Gestalttherapie einfach auf den Punkt gebracht. Die beiden beschriebenen Aspekte — die Bedeutung der persönlichen Beziehung und die Konzentration auf den Prozess — sind eng miteinander verknüpft, denn das Beziehungsgeschehen wirkt unmittelbar auf unser Erleben. Und dieses wirkt umgekehrt auf die Beziehung zum Gegenüber zurück.
Das Teilen der eigenen Erfahrungen und Gefühle schafft zwischenmenschliche Nähe und Vertrauen. Dadurch können die inneren Vorgänge und Gefühle noch intensiver erlebt werden. Dieser wechselseitige Prozess fördert die psychische Verdichtung im Erleben des Klienten. Diese Verdichtung, die der Psychotherapieforscher Klaus Grawe „prozessuale Aktivierung“ nennt, ist der Nährboden für wirksame und ganzheitliche Veränderung in der Psychotherapie. Denn die Bewusstheit von unseren Gefühlen und Bedürfnissen einerseits und unseren Vermeidungsstrategien und Ängsten andererseits sind die Grundvoraussetzung für persönliche Veränderung.
Psychische Probleme
Wie entstehen nun eigentlich psychische Probleme? Es gibt viele verschiedene Arten von psychischen Problemen, dieses Feld ist so vielfältig, wie es die Menschen sind, die welche haben. Denn jeder Mensch ist einzigartig und gestaltet sein Leben auf seine eigene Weise. Jeder findet seine eigenen Wege, um auch mit den schwierigen Situationen umzugehen, die das Leben bereit hält. Es lassen sich aber durchaus Grundmuster bei der Entstehung von seelischen Schwierigkeiten erkennen.
Innerer Konflikt
Ein typisches Muster, das wir alle kennen, ist der innere Konflikt zwischen einem Bedürfnis in uns und einer Kraft, die gegen dieses gerichtet ist. Wir stehen uns bei der Befriedigung dieses Bedürfnisses aus den verschiedensten Gründen mehr oder weniger selbst im Weg. Oft geht es um Bedürfnisse, die etwas mit unseren Beziehungen zu anderen Menschen zu tun haben.
Beispiele
Wir vermeiden es z.B., uns jemand anders gegenüber in einer Auseinandersetzung zu behaupten und ihm klar unsere Meinung zu sagen und geben stattdessen lieber klein bei. Vielleicht aus Angst, der Andere könnte sich sonst von uns abwenden und uns nicht mehr mögen. Oder wir trauen uns nicht, auf eine Person, die wir sehr mögen und der wir näher kommen möchten, zuzugehen und sie zu berühren. Wir warten stattdessen lieber, bis sie auf uns zukommt oder wir träumen nur von einem intimen Zusammensein mit ihr. Vielleicht aus Angst, wir könnten zurückgewiesen werden, vielleicht auch, weil wir fürchten, dann in dieser Nähe gefangen zu sein und unsere Freiheit zu verlieren.
Hindernisse entdecken
Einerseits spüren wir ein Bedürfnis und wollen dieses befriedigen, andererseits blockieren wir uns dabei, meist durch irgendeine Art von Angst. Z.B. phantasieren wir — häufig unbewusst oder nur teilweise bewusst — eine angst- oder schambesetzte Situation und vermeiden dann lieber die Aktivität, die der Befriedigung unseres Bedürfnisses dienen würde. Doch das Bedürfnis bleibt oder wird sogar noch stärker. So einfallsreich wir auch beim Entwickeln von Ideen sind, um es zu befriedigen — unser Scheitern frustriert uns und macht uns zunehmend unzufrieden. Das geht so lange, bis wir aufgeben — oder uns professionelle Unterstützung suchen, um einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden.
Der Hintergrund für unser Vermeidungsverhalten bzw. unsere Angst oder Scham liegt häufig in vergangenen Beziehungserfahrungen. Vielleicht waren wir als Kind oder Jugendliche öfter in Situationen, in denen wir lieblos behandelt wurden und haben uns damals, weil es für uns die beste Lösung war, dafür entschieden, unsere Bedürfnisse oder Gefühle lieber nicht mehr so offen zu zeigen, um nicht mehr so frustriert oder verletzt zu werden.
Im Laufe der Jahre haben wir dieses Vermeidungsverhalten, was damals sinnvoll war, dann weiter praktiziert — vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht aus erhöhter Vorsicht vor weiteren Verletzungen. Und nun merken wir, dass dieser Weg uns in eine Sackgasse geführt hat.
Wie wird Veränderung möglich?
Wie kommen wir aus dieser Sackgasse wieder heraus? Die Veränderung geschieht in solchen Fällen meist nicht dadurch, dass wir sie willentlich herbeiführen, indem wir uns z.B. vornehmen, uns in Zukunft anders zu verhalten, als wir es bisher getan haben. Das haben wir schon oft genug getan und blieben letztendlich erfolglos damit. Ein solcher Vorsatz ist meistens nicht nachhaltig und funktioniert häufig gar nicht, weil er nicht nur unser Veränderungsbedürfnis stärkt, sondern gleichzeitig auch die Gegenkraft — also die Angst, die zur Vermeidung des Bedürfnisses führt.
Veränderung geschieht nicht dadurch, dass wir versuchen, so zu sein, wie wir in Wirklichkeit gar nicht sind und nur so zu tun, als wäre damit schon alles anders. Sondern — und dies ist ein weiteres wichtiges theoretisches Konzept der Gestalttherapie, das von dem amerikanischen Gestalttherapeuten Arnold Beisser als die „Paradoxe Theorie der Veränderung“ formuliert wurde: “Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist.“2 Wenn wir uns nur vornehmen, anders zu sein, als wir in Wirklichkeit sind, schaffen wir damit noch keine ganzheitliche und nachhaltige persönliche Veränderung. Wenn wir aber genau hinschauen, wenn wir innehalten und uns gewahr werden, was in uns vorgeht und annehmen, was wir dabei wahrnehmen und erleben, dann verändern wir uns und werden zugleich immer mehr wir selbst.
Annehmen
Grundlegende Voraussetzung, um uns persönlich zu verändern, ist also, dass wir unsere jeweils gegenwärtigen seelischen Vorgänge mit voller Bewusstheit und ohne Einschränkung erleben: alle Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen, die zur jeweiligen Gestalt gehören, um die es in einem Veränderungsprozess geht. Das können wir nur, wenn wir uns so annehmen, wie wir sind und uns selbst mit freundlicher Aufmerksamkeit begegnen. Dann werden wir zu dem, der wir (eigentlich) sind und haben uns damit schon verändert.
Verantwortung für sich übernehmen
Wenn beide Pole — das Bedürfnis und die Vermeidung — deutlich sind und wir bewusst erleben, wie wir uns selbst bei der Befriedigung unserer Bedürfnisse im Weg stehen, beginnen wir, Verantwortung für unser Verhalten zu übernehmen. Wir hören auf, andere für unsere Misere verantwortlich zu machen und wir hören auf, nach weiteren Scheinlösungen für unser Problem zu suchen. Der Weg aus der Sackgasse führt durch den Konflikt selbst hindurch.
Es braucht Mut, die eigene innere Widersprüchlichkeit so bewusst zu erleben und die Spannung, die dabei entsteht, auszuhalten. Gestalttherapeuten unterstützen ihre Klienten dabei, durch diesen Prozess zu gehen. Denn in dem Maße, in dem wir bereit sind, die Verantwortung für unser Denken und Handeln zu übernehmen, in dem Maße wächst unsere innere Freiheit. Anders gesagt: wenn wir bereit sind loszulassen von der Illusion, wir müssten etwas bestimmtes tun, damit sich etwas verändert und bereit sind, uns voll hinzugeben an das, was gerade in uns geschieht, also an unseren eigenen Prozess, begegnen wir dem Leben und etwas neues kann entstehen.
In diesem spannenden — und manchmal auch schwierigen — Prozess begleiten Gestalttherapeuten ihre Klienten, indem sie ihnen sowohl ein authentisches als auch ein einfühlsames, vor allem aber ein persönliches Gegenüber sind.
Gestaltpsychologie
Jetzt ist es Zeit für ein bisschen Geschichte. Zunächst zu den Wurzeln der Gestalttherapie: einige wichtige theoretische Grundgedanken haben ihre Begründer von der Gestaltpsychologie übernommen, von der sie auch ihren Namen geerbt hat. Die Gestaltpsychologie war Anfang des 20. Jahrhunderts als Gegenbewegung zum damals verbreiteten mechanistischen Weltbild entstanden, das davon ausgeht, dass die Welt am besten zu verstehen sei, wenn man sie in ihre Einzelteile zerlegt und diese, einschließlich ihrer Wirkung aufeinander, analysiert.
Ganzheitlichkeit
Die Gestaltpsychologie betrachtet den Menschen dagegen als Ganzheit, in der die Ebenen Körper, Seele und Geist nicht voneinander getrennt, sondern eng miteinander verflochten sind. Deshalb fördern Gestalttherapeuten in der Therapie das ganzheitliche Wahrnehmen und Erleben, indem sie versuchen, alle Ebenen des menschlichen Seins einzubeziehen: die kognitive, die emotionale und die körperliche.
Gestalttherapeuten fragen in der Therapie daher beispielsweise nach Körperempfindungen, während sie mit ihren Klienten über deren persönliche Themen sprechen oder sie berühren sie manchmal. Sie geben ihnen auch öfter Rückmeldungen über ihre Gesten oder ihren Tonfall, mit denen sie etwas Bestimmtes gesagt haben.
Der Hintergrund dieser Vorgehensweise ist, das Gesprochene durch das Bewusstmachen der nonverbalen Ebene zu einer Ganzheit zu vervollständigen, um so zu einem ganzheitlichen Verständnis psychischer Probleme zu kommen. Die nichtsprachliche Ebene unserer Kommunikation enthält nämlich viele Botschaften, die wir für die therapeutische Arbeit entdecken und nutzen können.
Mensch und Beziehung
Die Gestaltpsychologie sieht den Menschen nicht als isoliertes Individuum, sondern als ein Wesen, das in seine sozialen Beziehungen eingebettet ist. Für uns Gestalttherapeuten bedeutet das, dass wir den Menschen mit all seinen menschlichen Eigenschaften begreifen. Eine der wichtigsten ist sicher die, dass wir einander brauchen, um zu leben und dass wir im persönlichen Kontakt miteinander innerlich wachsen und reifen. Deshalb spielt die persönliche Beziehung eine ganz wesentliche Rolle in der Gestalttherapie. Sie ist für Gestalttherapeutinnen das Fundament, auf dem persönliche Veränderung erst möglich wird.
Wahrnehmung
Das Prinzip der Ganzheitlichkeit finden wir auch in unserer Wahrnehmung und in unserem seelischen Erleben. Als menschliche Wesen bilden wir nämlich immer Ganzheiten — auch Gestalten oder Figuren genannt — die für uns einen Sinn ergeben. Dabei treten die einzelnen Teile dieser Figuren zu Gunsten der Gesamtheit der Gestalt in den Hintergrund.
Beispiel Dreieck
Beispielsweise sehen wir in drei relativ nahe beieinander liegenden Punkten ein Dreieck und nicht mehr die einzelnen Punkte. Das Dreieck als Form kommt in den Vordergrund unserer Wahrnehmung, die drei Punkte selbst und deren Beschaffenheit treten in den Hintergrund und werden nebensächlich. Es könnten auch drei Kreuzchen oder kurze Striche sein — an der übergeordneten Form des Dreiecks, das sie gemeinsam bilden, würde das nichts ändern.
Offene Gestalten
Unsere Wahrnehmung funktioniert so, dass diejenigen Gestalten (z.B. Gefühle oder Bedürfnisse), die in der jeweiligen Situation relevant sind, in den Vordergrund unserer Aufmerksamkeit treten und uns in bestimmten Fällen zu einer Aktivität veranlassen, die im gegebenen Moment für uns und unseren Organismus wichtig ist. Wir sprechen in solchen Fällen auch von offenen Gestalten. Diese Metapher soll verdeutlichen, dass es sich um Gestalten handelt, die eine verändernde Kraft in sich tragen und die ihrer Vervollständigung bzw. Schließung zustreben.
Beispiel Hunger
Ein einfaches Beispiel für dieses Prinzip ist der Hunger: er tritt, wenn er stark genug geworden ist, in den Vordergrund unserer Aufmerksamkeit und signalisiert uns, dass unser Organismus Nahrung braucht.
In der Sprache der Gestaltpsychologie heißt das: eine offene Gestalt ist deutlich geworden, die zur Schließung drängt. Sie bringt uns dazu, etwas zu essen. Wenn wir das Hungergefühl, das uns unser Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme signalisiert hat, durch Essen befriedigt haben, kann es wieder verschwinden bzw. in den Hintergrund treten. In der Gestaltterminologie ausgedrückt: wenn die offene Gestalt (in unserem Beispiel der Hunger) geschlossen ist, kann sie wieder in den Hintergrund unserer Aufmerksamkeit treten.
Offene Gestalten und persönliche Veränderung
Dasselbe gilt auch für den Bereich unseres psychischen Erlebens: Gefühle, Erinnerungen, (Körper-) Empfindungen und Bedürfnisse werden in uns deutlich und signalisieren uns etwas Bestimmtes. Unsere Gefühle spielen dabei eine wichtige Rolle, denn sie geben uns wichtige Hinweise auf unsere Bedürfnisse.
Werden z.B. Bedürfnisse wie das nach Selbstbehauptung, das nach Anerkennung oder das nach Nähe zu einem anderen Menschen in uns spürbar und kommen als offene Gestalten in den Vordergrund unserer Aufmerksamkeit, dann bewegen sie uns zu einer Aktivität, die zur Wiederherstellung unseres inneren Gleichgewichts dient. Ist das Bedürfnis befriedigt — die offene Gestalt also zur Vollendung gebracht — so kann diese wieder in den Hintergrund gehen und Platz machen für andere (offene) Gestalten.
Der Organismus reguliert sich selbst
So besitzt bzw. entwickelt jeder lebendige Organismus die Fähigkeit, sich selbst durch dieses Prinzip zu regulieren: indem er Mangel- oder Ungleichgewichtszustände (offene Gestalten) wahrnimmt, den Gleichgewichtszustand anstrebt und ihn mittels eigener Aktivität (wieder) herstellt — die offenen Gestalten also schließt.3
Gestalt — Therapie
Dem natürlichen Prinzip der Selbstregulation durch Gestaltbildung folgen wir in der gestalttherapeutischen Arbeit, denn es gilt genauso für persönliche Veränderungsbedürfnisse. Wir orientieren uns an dem, was im jeweiligen Moment der therapeutischen Situation in den Vordergrund unserer Wahrnehmung und unseres Erlebens kommt, was also in unserer Wahrnehmung und in unserem Erleben vor dem Hintergrund des jeweiligen Veränderungsthemas Gestalt annimmt.
Die wichtigste Methode, mit der Gestalttherapeuten das tun, ist die Förderung von Bewusstheit für diese Vorgänge. Sie unterstützen mit dieser Herangehensweise gleichzeitig die natürlichen Gestaltbildungsprozesse ihrer Klienten und damit ihre Fähigkeit, sich selbst zu regulieren. Deshalb hat die gestalttherapeutische Arbeit die angenehme Nebenwirkung, dass sie psychotherapeutische Hilfe zur Selbsthilfe ist.
Vor allem aber unterstützen Gestalttherapeuten ihre Klienten auf diese Weise dabei, ihre Konflikte zu überwinden — oder genauer gesagt, sie zu durchleben, indem sie sich mit ihrer Bewusstheit ganz in diesen hinein begeben, ihn vollständig annehmen und erleben. Genau dadurch kann sich nämlich die innere Dynamik verändern. Der Konflikt, in dem wir sind, bleibt nicht in seiner blockierenden Form stehen, sondern kann sich weiter entwickeln und schließlich lösen.
Christoph Steinmetz, Berlin im Oktober 2015
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1 Ich verwende der besseren Lesbarkeit halber mal die männliche und mal die weibliche Form und meine dabei immer beide
2 Arnold R. Beisser: “Wozu brauche ich Flügel?”, Wuppertal 1997, S. 139
3 Dieser Prozess wird auch als Homöostase bezeichnet.
Den Text “Was ist Gestalttherapie?” kannst du dir hier herunterladen: