Was ist Gestalttherapie?

Vielleicht hast du dich schon einmal gefragt, was Gestalt­the­ra­pie eigent­lich ist. Sie wurde nach dem zweiten Weltkrieg von dem Berli­ner Psych­ia­ter und Psycho­the­ra­peu­ten Fritz Perls und seiner Frau Lore in Zusam­men­ar­beit mit Paul Goodman entwi­ckelt und ist eine Form von Psycho­the­ra­pie (nicht zu verwech­seln mit Gestal­tungs­the­ra­pie!). Sie reprä­sen­tiert heute eine der wichti­gen psycho­the­ra­peu­ti­schen Ansätze inner­halb der humanis­ti­schen Psychologie.

Psycho­the­ra­pie

Es geht in der Gestalt­the­ra­pie also — wie auch bei anderen psycho­the­ra­peu­ti­schen Verfah­ren — um Unter­stüt­zung beim persön­li­chen Wachs­tum bzw. bei einer persön­li­chen Verän­de­rung. Das Beson­dere der Gestalt­the­ra­pie im Vergleich zu anderen Psycho­the­ra­pie-Ansät­zen liegt in einigen Aspek­ten, auf die ich im Weite­ren näher einge­hen werde.

Zuerst möchte ich die zwei wichtigs­ten Merkmale der Gestalt­the­ra­pie erläu­tern, die für mich persön­lich auch dieje­ni­gen sind, die meine Arbeit so leben­dig und spannend machen. Zugleich liegt in genau diesen beiden Aspek­ten das, was die Gestalt­the­ra­pie am meisten von anderen Psycho­the­ra­pie­for­men unter­schei­det. Danach komme ich zu weite­ren inter­es­san­ten theore­ti­schen Hintergründen.

Die Bedeu­tung der persön­li­chen Bezie­hung zwischen Thera­peu­tin und Klient1

Das wichtigste Merkmal der Gestalt­the­ra­pie ist die Bedeu­tung der persön­li­chen Bezie­hung zwischen Thera­peu­tin und Klient. Persön­li­che Bezie­hung bedeu­tet in diesem Zusam­men­hang, dass sich Thera­peut und Klien­tin mit all ihren persön­li­chen Regun­gen, Gefüh­len und Gedan­ken begeg­nen. Uns diese inneren und persön­li­chen Vorgänge einan­der mitzu­tei­len, führt zu mehr Nähe und Inten­si­tät in unserer Bezie­hung. Ohne eine vertrau­ens­volle Bezie­hung sind persön­li­che Verän­de­rungs­pro­zesse in der Psycho­the­ra­pie kaum möglich. Das wird bei den meisten anderen Psycho­the­ra­pie­for­men auch so gesehen. In der Gestalt­the­ra­pie aber nimmt das Bezie­hungs­ge­sche­hen selbst, also das, was zwischen Klient und Thera­peu­tin in ihrer konkre­ten Begeg­nung vorgeht, einen zentra­len Stellen­wert für die thera­peu­ti­sche Arbeit ein. Die Art, wie wir anderen Menschen begeg­nen und unsere Bezie­hun­gen zu ihnen gestal­ten, ist nämlich grund­le­gend dafür, wie wir dem Leben begeg­nen und was wir aus unserem Leben machen.

In den zwischen­mensch­li­chen Vorgän­gen spiegelt sich zudem häufig etwas von den Proble­men wider, aufgrund derer jemand psycho­the­ra­peu­ti­sche Unter­stüt­zung sucht. Denn unsere psychi­schen Probleme haben meistens etwas mit unseren Bezie­hungs­er­fah­run­gen zu tun bzw. mit der Art und Weise, wie wir unsere Bezie­hun­gen gestal­ten. Das gilt auch umgekehrt: keine anderen Erfah­run­gen vermö­gen unser persön­li­ches Wachs­tum mehr anzure­gen als die, die wir in der Begeg­nung mit anderen Menschen machen. Deshalb hat der persön­li­che Kontakt bzw. die persön­li­che Bezie­hung zwischen Thera­peut und Klien­tin in der Gestalt­the­ra­pie eine zentrale Bedeu­tung und wird immer wieder zum Gegen­stand der gemein­sa­men Gesprä­che gemacht.

Dialo­gi­sche Grundhaltung

Gestalt­the­ra­peu­ten sehen sich ihren Klien­tin­nen gegen­über nicht als Exper­ten, die deren Verhal­ten und Gedan­ken inter­pre­tie­ren und damit die Deutungs­macht für sich beanspru­chen. Sie unter­stüt­zen ihre Klien­ten vielmehr dabei, die für sie richti­gen Bedeu­tun­gen selber heraus­zu­fin­den. Sie präsen­tie­ren ihren Klien­tin­nen auch kein Programm zur Problem­lö­sung, denn das würde der Komple­xi­tät und Einzig­ar­tig­keit unseres mensch­li­chen Daseins nicht gerecht werden. Sie regen ihre Klien­ten statt­des­sen zuwei­len an, in ihrem Alltag etwas auszu­pro­bie­ren — z.B. neue Verhal­tens­wei­sen, mit denen sie bewusst experi­men­tie­ren können, um neue Erfah­run­gen machen zu können.

Vor allem aber begeg­nen Gestalt­the­ra­peu­ten ihren Klien­tin­nen als persön­li­ches Gegen­über und nehmen alle mensch­li­chen Empfin­dun­gen, Regun­gen und Impulse als Teile der Inter­ak­tion mit ihnen ernst: Und zwar sowohl die der Klien­ten, als auch ihre eigenen. Das macht die thera­peu­ti­sche Bezie­hung in der Gestalt­the­ra­pie zu einer persönlichen.

Das ist es, was mich an meiner Arbeit so faszi­niert und heraus­for­dert, nicht nur als Thera­peut, sondern auch — und vor allem — als Person und als Mensch mit meinen ganz eigenen Eindrü­cken, Gedan­ken, Empfin­dun­gen und Impul­sen. Und das ist es, was jede Begeg­nung mit meinen Klien­tin­nen zu einer einzig­ar­ti­gen macht, die ich als solche inten­siv erlebe.

Die Kunst des Gestalt­the­ra­peu­ten ist es, sensi­bel für diese zwischen­mensch­li­chen Vorgänge zu sein, sie bewusst wahrzu­neh­men und sie dem Klien­ten im passen­den Moment und auf eine angemes­sene Weise mitzu­tei­len. Dies erfor­dert vom Thera­peu­ten zum Einen eine gute Selbst­wahr­neh­mung und zum Anderen das nötige Einfüh­lungs­ver­mö­gen in den Anderen.

Die Konzen­tra­tion auf den Prozess

Das zweite grund­le­gende Merkmal der Gestalt­the­ra­pie ist die Konzen­tra­tion auf den Prozess. Gestalt­the­ra­peu­ten unter­schei­den in der Arbeit mit ihren Klien­tin­nen zwischen Inhalts- und Prozess­ebene. Mit Inhalt ist das gemeint, WAS die gespro­che­nen Worte und Sätze bedeu­ten bzw. das, worüber EXPLIZIT gespro­chen wird. Prozess meint all das, was an psychi­schen Vorgän­gen im jewei­li­gen Moment in uns abläuft, was also an (Körper-) Empfin­dun­gen, Impul­sen und emotio­na­len Bewegun­gen in uns vorgeht und IMPLIZIT im Gesag­ten mitschwingt. Der Prozess kommt durch die Art und Weise zum Ausdruck, WIE wir sprechen, mit welchem Tonfall, mit welcher Gestik und Mimik. Im WIE unserer Mittei­lun­gen bildet sich sozusa­gen ein wesent­li­cher Teil dessen ab, was (psychisch) in uns vorgeht. Aber auch in dem Raum zwischen den Worten geschieht Prozess.

In erster Linie ist natür­lich der Prozess des Klien­ten gemeint, aber auch der Prozess der Thera­peu­tin spielt eine Rolle, da sich ein persön­li­cher Kontakt nur entwi­ckelt, wenn beide sich ihres Prozes­ses bewusst sind und dessen Inhalte dem jeweils Anderen mitteilen. 

Bewusst wahrneh­men und erleben

Gestalt­the­ra­peu­ten richten ihre Aufmerk­sam­keit in der Thera­pie vor allem auf das prozes­suale Gesche­hen, denn dieses ist in beson­de­rer Weise für unsere psychi­schen Probleme und damit auch für die ersehnte persön­li­che Verän­de­rung relevant. Die Kunst des Gestalt­the­ra­peu­ten besteht darin, einen Raum zu öffnen und eine Atmosphäre zu schaf­fen, die es ermög­licht, sich diesen persön­li­chen Vorgän­gen zuzuwen­den und sich auf das einzu­las­sen, was in uns auftaucht.

Unsere inneren Vorgänge — Gefühle, Empfin­dun­gen, Wahrneh­mun­gen — unter­lie­gen einer ständi­gen, wenn auch manch­mal nur sehr allmäh­li­chen, Verän­de­rung und lassen sich nicht festhal­ten (deshalb spricht man von “Prozess”). Aber man kann sie erfah­ren, indem man seine Aufmerk­sam­keit auf sie richtet und sie bewusst erlebt. Und so erlebt man auch wie sie sich verän­dern. In der Gestalt­the­ra­pie fördern wir die Bewusst­heit der Klien­tin­nen von sich selbst, denn das ist die Voraus­set­zung für jede Verän­de­rung. Wir sind dabei nicht bewer­tend oder urtei­lend. Alles was auftaucht, darf sein und wird angenommen.

Probier es aus

Du kannst das einmal selbst auspro­bie­ren, indem du deine Aufmerk­sam­keit für eine Weile auf ein Gefühl (eine Empfin­dung oder eine Stimmung) richtest, die du in diesem Moment in dir spürst. Begrüße das, was du in dir findest, auch wenn es sich im ersten Moment unange­nehm anfüh­len sollte … Du wirst bemer­ken, dass das Gefühl bzw. deine Wahrneh­mung dieses Gefühls sich mit der Zeit verän­dert. Vielleicht verän­dert sich das Gefühl ganz allmäh­lich oder vielleicht nimmst du nach einer Weile andere Gefühls­qua­li­tä­ten wahr als noch zu Anfang. Oder ein Gefühl wird deutli­cher. Das ist dein gegen­wär­ti­ger Prozess. Du hast ihn gerade bewusst erlebt, indem du ihm in den Vorder­grund ihrer Aufmerksamkeit geholt hast.

Der Prozess findet jenseits von Worten statt und ist reine Erfah­rung, die v. a. durch unsere nonver­bale Kommu­ni­ka­tion zum Ausdruck kommt. Diese Ebene ist uns häufig nicht bewusst. Dennoch liegt in der Art und Weise, wie wir etwas sagen, meist eine wichtige Bedeu­tung. Deshalb teilen Gestalt­the­ra­peu­ten ihren Klien­ten immer wieder mit, was sie auf der Prozess­ebene wahrneh­men und erleben. Sie geben ihnen beispiels­weise Rückmel­dun­gen über ihre Körper­hal­tung, wenn ihnen diese beson­ders auffällt oder über den Tonfall, mit dem sie etwas gesagt haben. So kann ihnen bewusst werden, was bisher vorbor­gen war. So können Gefühle deutli­cher werden und Bedürf­nisse an Gestalt gewin­nen.

Gestalt­the­ra­peu­ten machen also das zum Inhalt des Gesprächs, was sie auf der Prozess­ebene wahrneh­men und erleben. Und sie inter­es­sie­ren sich für das, was in ihren Klien­ten vorgeht, während diese etwas von sich mittei­len. Sie teilen ihren Klien­ten auch gerne mit, was sie ihrer­seits empfin­den, während sie ihnen zuhören und sie in ihrer Art erleben. Auf diese Weise entsteht ein persön­li­cher Kontakt zwischen beiden, der den Verän­de­rungs-Prozess des Klien­ten anregt.

Ich und Du — hier und jetzt

So hat Fritz Perls die beiden wichtigs­ten Grund­prin­zi­pien der Gestalt­the­ra­pie einfach auf den Punkt gebracht. Die beiden beschrie­be­nen Aspekte — die Bedeu­tung der persön­li­chen Bezie­hung und die Konzen­tra­tion auf den Prozess — sind eng mitein­an­der verknüpft, denn das Bezie­hungs­ge­sche­hen wirkt unmit­tel­bar auf unser Erleben. Und dieses wirkt umgekehrt auf die Bezie­hung zum Gegen­über zurück.

Das Teilen der eigenen Erfah­run­gen und Gefühle schafft zwischen­mensch­li­che Nähe und Vertrauen. Dadurch können die inneren Vorgänge und Gefühle noch inten­si­ver erlebt werden. Dieser wechsel­sei­tige Prozess fördert die psychi­sche Verdich­tung im Erleben des Klien­ten. Diese Verdich­tung, die der Psycho­the­ra­pie­for­scher Klaus Grawe „prozes­suale Aktivie­rung“ nennt, ist der Nährbo­den für wirksame und ganzheit­li­che Verän­de­rung in der Psycho­the­ra­pie. Denn die Bewusst­heit von unseren Gefüh­len und Bedürf­nis­sen einer­seits und unseren Vermei­dungs­stra­te­gien und Ängsten anderer­seits sind die Grund­vor­aus­set­zung für persön­li­che Veränderung.

Psychi­sche Probleme

Wie entste­hen nun eigent­lich psychi­sche Probleme? Es gibt viele verschie­dene Arten von psychi­schen Proble­men, dieses Feld ist so vielfäl­tig, wie es die Menschen sind, die welche haben. Denn jeder Mensch ist einzig­ar­tig und gestal­tet sein Leben auf seine eigene Weise. Jeder findet seine eigenen Wege, um auch mit den schwie­ri­gen Situa­tio­nen umzuge­hen, die das Leben bereit hält. Es lassen sich aber durch­aus Grund­mus­ter bei der Entste­hung von seeli­schen Schwie­rig­kei­ten erkennen.

Innerer Konflikt

Ein typisches Muster, das wir alle kennen, ist der innere Konflikt zwischen einem Bedürf­nis in uns und einer Kraft, die gegen dieses gerich­tet ist. Wir stehen uns bei der Befrie­di­gung dieses Bedürf­nis­ses aus den verschie­dens­ten Gründen mehr oder weniger selbst im Weg. Oft geht es um Bedürf­nisse, die etwas mit unseren Bezie­hun­gen zu anderen Menschen zu tun haben.

Beispiele

Wir vermei­den es z.B., uns jemand anders gegen­über in einer Ausein­an­der­set­zung zu behaup­ten und ihm klar unsere Meinung zu sagen und geben statt­des­sen lieber klein bei. Vielleicht aus Angst, der Andere könnte sich sonst von uns abwen­den und uns nicht mehr mögen. Oder wir trauen uns nicht, auf eine Person, die wir sehr mögen und der wir näher kommen möchten, zuzuge­hen und sie zu berüh­ren. Wir warten statt­des­sen lieber, bis sie auf uns zukommt oder wir träumen nur von einem intimen Zusam­men­sein mit ihr. Vielleicht aus Angst, wir könnten zurück­ge­wie­sen werden, vielleicht auch, weil wir fürch­ten, dann in dieser Nähe gefan­gen zu sein und unsere Freiheit zu verlieren.

Hinder­nisse entdecken

Einer­seits spüren wir ein Bedürf­nis und wollen dieses befrie­di­gen, anderer­seits blockie­ren wir uns dabei, meist durch irgend­eine Art von Angst. Z.B. phanta­sie­ren wir — häufig unbewusst oder nur teilweise bewusst — eine angst- oder scham­be­setzte Situa­tion und vermei­den dann lieber die Aktivi­tät, die der Befrie­di­gung unseres Bedürf­nis­ses dienen würde. Doch das Bedürf­nis bleibt oder wird sogar noch stärker. So einfalls­reich wir auch beim Entwi­ckeln von Ideen sind, um es zu befrie­di­gen — unser Schei­tern frustriert uns und macht uns zuneh­mend unzufrie­den. Das geht so lange, bis wir aufge­ben — oder uns profes­sio­nelle Unter­stüt­zung suchen, um einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden.

Der Hinter­grund für unser Vermei­dungs­ver­hal­ten bzw. unsere Angst oder Scham liegt häufig in vergan­ge­nen Bezie­hungs­er­fah­run­gen. Vielleicht waren wir als Kind oder Jugend­li­che öfter in Situa­tio­nen, in denen wir lieblos behan­delt wurden und haben uns damals, weil es für uns die beste Lösung war, dafür entschie­den, unsere Bedürf­nisse oder Gefühle lieber nicht mehr so offen zu zeigen, um nicht mehr so frustriert oder verletzt zu werden.

Im Laufe der Jahre haben wir dieses Vermei­dungs­ver­hal­ten, was damals sinnvoll war, dann weiter prakti­ziert — vielleicht aus Gewohn­heit, vielleicht aus erhöh­ter Vorsicht vor weite­ren Verlet­zun­gen. Und nun merken wir, dass dieser Weg uns in eine Sackgasse geführt hat.

Wie wird Verän­de­rung möglich?

Wie kommen wir aus dieser Sackgasse wieder heraus? Die Verän­de­rung geschieht in solchen Fällen meist nicht dadurch, dass wir sie willent­lich herbei­füh­ren, indem wir uns z.B. vorneh­men, uns in Zukunft anders zu verhal­ten, als wir es bisher getan haben. Das haben wir schon oft genug getan und blieben letzt­end­lich erfolg­los damit. Ein solcher Vorsatz ist meistens nicht nachhal­tig und funktio­niert häufig gar nicht, weil er nicht nur unser Verän­de­rungs­be­dürf­nis stärkt, sondern gleich­zei­tig auch die Gegen­kraft — also die Angst, die zur Vermei­dung des Bedürf­nis­ses führt.

Verän­de­rung geschieht nicht dadurch, dass wir versu­chen, so zu sein, wie wir in Wirklich­keit gar nicht sind und nur so zu tun, als wäre damit schon alles anders. Sondern — und dies ist ein weite­res wichti­ges theore­ti­sches Konzept der Gestalt­the­ra­pie, das von dem ameri­ka­ni­schen Gestalt­the­ra­peu­ten Arnold Beisser als die „Paradoxe Theorie der Verän­de­rung“ formu­liert wurde: “Verän­de­rung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist.“2 Wenn wir uns nur vorneh­men, anders zu sein, als wir in Wirklich­keit sind, schaf­fen wir damit noch keine ganzheit­li­che und nachhal­tige persön­li­che Verän­de­rung. Wenn wir aber genau hinschauen, wenn wir innehal­ten und uns gewahr werden, was in uns vorgeht und anneh­men, was wir dabei wahrneh­men und erleben, dann verän­dern wir uns und werden zugleich immer mehr wir selbst.

Anneh­men

Grund­le­gende Voraus­set­zung, um uns persön­lich zu verän­dern, ist also, dass wir unsere jeweils gegen­wär­ti­gen seeli­schen Vorgänge mit voller Bewusst­heit und ohne Einschrän­kung erleben: alle Gedan­ken, Gefühle und Körper­emp­fin­dun­gen, die zur jewei­li­gen Gestalt gehören, um die es in einem Verän­de­rungs­pro­zess geht. Das können wir nur, wenn wir uns so anneh­men, wie wir sind und uns selbst mit freund­li­cher Aufmerk­sam­keit begeg­nen. Dann werden wir zu dem, der wir (eigent­lich) sind und haben uns damit schon verändert.

Verant­wor­tung für sich übernehmen

Wenn beide Pole — das Bedürf­nis und die Vermei­dung — deutlich sind und wir bewusst erleben, wie wir uns selbst bei der Befrie­di­gung unserer Bedürf­nisse im Weg stehen, begin­nen wir, Verant­wor­tung für unser Verhal­ten zu überneh­men. Wir hören auf, andere für unsere Misere verant­wort­lich zu machen und wir hören auf, nach weite­ren Schein­lö­sun­gen für unser Problem zu suchen. Der Weg aus der Sackgasse führt durch den Konflikt selbst hindurch.

Es braucht Mut, die eigene innere Wider­sprüch­lich­keit so bewusst zu erleben und die Spannung, die dabei entsteht, auszu­hal­ten. Gestalt­the­ra­peu­ten unter­stüt­zen ihre Klien­ten dabei, durch diesen Prozess zu gehen. Denn in dem Maße, in dem wir bereit sind, die Verant­wor­tung für unser Denken und Handeln zu überneh­men, in dem Maße wächst unsere innere Freiheit. Anders gesagt: wenn wir bereit sind loszu­las­sen von der Illusion, wir müssten etwas bestimm­tes tun, damit sich etwas verän­dert und bereit sind, uns voll hinzu­ge­ben an das, was gerade in uns geschieht, also an unseren eigenen Prozess, begeg­nen wir dem Leben und etwas neues kann entstehen.

In diesem spannen­den — und manch­mal auch schwie­ri­gen — Prozess beglei­ten Gestalt­the­ra­peu­ten ihre Klien­ten, indem sie ihnen sowohl ein authen­ti­sches als auch ein einfühl­sa­mes, vor allem aber ein persön­li­ches Gegen­über sind.

Gestalt­psy­cho­lo­gie

Jetzt ist es Zeit für ein bisschen Geschichte. Zunächst zu den Wurzeln der Gestalt­the­ra­pie: einige wichtige theore­ti­sche Grund­ge­dan­ken haben ihre Begrün­der von der Gestalt­psy­cho­lo­gie übernom­men, von der sie auch ihren Namen geerbt hat. Die Gestalt­psy­cho­lo­gie war Anfang des 20. Jahrhun­derts als Gegen­be­we­gung zum damals verbrei­te­ten mecha­nis­ti­schen Weltbild entstan­den, das davon ausgeht, dass die Welt am besten zu verste­hen sei, wenn man sie in ihre Einzel­teile zerlegt und diese, einschließ­lich ihrer Wirkung aufein­an­der, analysiert.

Ganzheit­lich­keit

Die Gestalt­psy­cho­lo­gie betrach­tet den Menschen dagegen als Ganzheit, in der die Ebenen Körper, Seele und Geist nicht vonein­an­der getrennt, sondern eng mitein­an­der verfloch­ten sind. Deshalb fördern Gestalt­the­ra­peu­ten in der Thera­pie das ganzheit­li­che Wahrneh­men und Erleben, indem sie versu­chen, alle Ebenen des mensch­li­chen Seins einzu­be­zie­hen: die kogni­tive, die emotio­nale und die körperliche.

Gestalt­the­ra­peu­ten fragen in der Thera­pie daher beispiels­weise nach Körper­emp­fin­dun­gen, während sie mit ihren Klien­ten über deren persön­li­che Themen sprechen oder sie berüh­ren sie manch­mal. Sie geben ihnen auch öfter Rückmel­dun­gen über ihre Gesten oder ihren Tonfall, mit denen sie etwas Bestimm­tes gesagt haben.

Der Hinter­grund dieser Vorge­hens­weise ist, das Gespro­chene durch das Bewusst­ma­chen der nonver­ba­len Ebene zu einer Ganzheit zu vervoll­stän­di­gen, um so zu einem ganzheit­li­chen Verständ­nis psychi­scher Probleme zu kommen. Die nicht­sprach­li­che Ebene unserer Kommu­ni­ka­tion enthält nämlich viele Botschaf­ten, die wir für die thera­peu­ti­sche Arbeit entde­cken und nutzen können.

Mensch und Beziehung

Die Gestalt­psy­cho­lo­gie sieht den Menschen nicht als isolier­tes Indivi­duum, sondern als ein Wesen, das in seine sozia­len Bezie­hun­gen einge­bet­tet ist. Für uns Gestalt­the­ra­peu­ten bedeu­tet das, dass wir den Menschen mit all seinen mensch­li­chen Eigen­schaf­ten begrei­fen. Eine der wichtigs­ten ist sicher die, dass wir einan­der brauchen, um zu leben und dass wir im persön­li­chen Kontakt mitein­an­der inner­lich wachsen und reifen. Deshalb spielt die persön­li­che Bezie­hung eine ganz wesent­li­che Rolle in der Gestalt­the­ra­pie. Sie ist für Gestalt­the­ra­peu­tin­nen das Funda­ment, auf dem persön­li­che Verän­de­rung erst möglich wird.

Wahrneh­mung

Das Prinzip der Ganzheit­lich­keit finden wir auch in unserer Wahrneh­mung und in unserem seeli­schen Erleben. Als mensch­li­che Wesen bilden wir nämlich immer Ganzhei­ten — auch Gestal­ten oder Figuren genannt — die für uns einen Sinn ergeben. Dabei treten die einzel­nen Teile dieser Figuren zu Gunsten der Gesamt­heit der Gestalt in den Hintergrund.

Beispiel Dreieck

Beispiels­weise sehen wir in drei relativ nahe beiein­an­der liegen­den Punkten ein Dreieck und nicht mehr die einzel­nen Punkte. Das Dreieck als Form kommt in den Vorder­grund unserer Wahrneh­mung, die drei Punkte selbst und deren Beschaf­fen­heit treten in den Hinter­grund und werden neben­säch­lich. Es könnten auch drei Kreuz­chen oder kurze Striche sein — an der überge­ord­ne­ten Form des Dreiecks, das sie gemein­sam bilden, würde das nichts ändern.

Offene Gestal­ten

Unsere Wahrneh­mung funktio­niert so, dass dieje­ni­gen Gestal­ten (z.B. Gefühle oder Bedürf­nisse), die in der jewei­li­gen Situa­tion relevant sind, in den Vorder­grund unserer Aufmerk­sam­keit treten und uns in bestimm­ten Fällen zu einer Aktivi­tät veran­las­sen, die im gegebe­nen Moment für uns und unseren Organis­mus wichtig ist. Wir sprechen in solchen Fällen auch von offenen Gestal­ten. Diese Metapher soll verdeut­li­chen, dass es sich um Gestal­ten handelt, die eine verän­dernde Kraft in sich tragen und die ihrer Vervoll­stän­di­gung bzw. Schlie­ßung zustreben.

Beispiel Hunger

Ein einfa­ches Beispiel für dieses Prinzip ist der Hunger: er tritt, wenn er stark genug gewor­den ist, in den Vorder­grund unserer Aufmerk­sam­keit und signa­li­siert uns, dass unser Organis­mus Nahrung braucht.

In der Sprache der Gestalt­psy­cho­lo­gie heißt das: eine offene Gestalt ist deutlich gewor­den, die zur Schlie­ßung drängt. Sie bringt uns dazu, etwas zu essen. Wenn wir das Hunger­ge­fühl, das uns unser Bedürf­nis nach Nahrungs­auf­nahme signa­li­siert hat, durch Essen befrie­digt haben, kann es wieder verschwin­den bzw. in den Hinter­grund treten. In der Gestalt­ter­mi­no­lo­gie ausge­drückt: wenn die offene Gestalt (in unserem Beispiel der Hunger) geschlos­sen ist, kann sie wieder in den Hinter­grund unserer Aufmerk­sam­keit treten.

Offene Gestal­ten und persön­li­che Veränderung

Dasselbe gilt auch für den Bereich unseres psychi­schen Erlebens: Gefühle, Erinne­run­gen, (Körper-) Empfin­dun­gen und Bedürf­nisse werden in uns deutlich und signa­li­sie­ren uns etwas Bestimm­tes. Unsere Gefühle spielen dabei eine wichtige Rolle, denn sie geben uns wichtige Hinweise auf unsere Bedürfnisse.

Werden z.B. Bedürf­nisse wie das nach Selbst­be­haup­tung, das nach Anerken­nung oder das nach Nähe zu einem anderen Menschen in uns spürbar und kommen als offene Gestal­ten in den Vorder­grund unserer Aufmerk­sam­keit, dann bewegen sie uns zu einer Aktivi­tät, die zur Wieder­her­stel­lung unseres inneren Gleich­ge­wichts dient. Ist das Bedürf­nis befrie­digt — die offene Gestalt also zur Vollendung gebracht — so kann diese wieder in den Hinter­grund gehen und Platz machen für andere (offene) Gestalten.

Der Organis­mus reguliert sich selbst

So besitzt bzw. entwi­ckelt jeder leben­dige Organis­mus die Fähig­keit, sich selbst durch dieses Prinzip zu regulie­ren: indem er Mangel- oder Ungleich­ge­wichts­zu­stände (offene Gestal­ten) wahrnimmt, den Gleich­ge­wichts­zu­stand anstrebt und ihn mittels eigener Aktivi­tät (wieder) herstellt — die offenen Gestal­ten also schließt.3

Gestalt — Therapie

Dem natür­li­chen Prinzip der Selbst­re­gu­la­tion durch Gestalt­bil­dung folgen wir in der gestalt­the­ra­peu­ti­schen Arbeit, denn es gilt genauso für persön­li­che Verän­de­rungs­be­dürf­nisse. Wir orien­tie­ren uns an dem, was im jewei­li­gen Moment der thera­peu­ti­schen Situa­tion in den Vorder­grund unserer Wahrneh­mung und unseres Erlebens kommt, was also in unserer Wahrneh­mung und in unserem Erleben vor dem Hinter­grund des jewei­li­gen Verän­de­rungs­the­mas Gestalt annimmt.

Die wichtigste Methode, mit der Gestalt­the­ra­peu­ten das tun, ist die Förde­rung von Bewusst­heit für diese Vorgänge. Sie unter­stüt­zen mit dieser Heran­ge­hens­weise gleich­zei­tig die natür­li­chen Gestalt­bil­dungs­pro­zesse ihrer Klien­ten und damit ihre Fähig­keit, sich selbst zu regulie­ren. Deshalb hat die gestalt­the­ra­peu­ti­sche Arbeit die angenehme Neben­wir­kung, dass sie psycho­the­ra­peu­ti­sche Hilfe zur Selbst­hilfe ist.

Vor allem aber unter­stüt­zen Gestalt­the­ra­peu­ten ihre Klien­ten auf diese Weise dabei, ihre Konflikte zu überwin­den — oder genauer gesagt, sie zu durch­le­ben, indem sie sich mit ihrer Bewusst­heit ganz in diesen hinein begeben, ihn vollstän­dig anneh­men und erleben. Genau dadurch kann sich nämlich die innere Dynamik verän­dern. Der Konflikt, in dem wir sind, bleibt nicht in seiner blockie­ren­den Form stehen, sondern kann sich weiter entwi­ckeln und schließ­lich lösen.

Chris­toph Stein­metz, Berlin im Oktober 2015

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1 Ich verwende der besse­ren Lesbar­keit halber mal die männli­che und mal die weibli­che Form und meine dabei immer beide

2 Arnold R. Beisser: “Wozu brauche ich Flügel?”, Wupper­tal 1997, S. 139

3 Dieser Prozess wird auch als Homöo­stase bezeichnet.

Den Text “Was ist Gestalt­the­ra­pie?” kannst du dir hier herunterladen:

Was_ist_Gestalttherapie.pdf